Mit Fotos von Klaus Meier-Ude und Texten von Valentin Senger

AUS DEM BUCH

An Stelle einer Einführung
Wer hat nicht schon einmal gefragt: warum legen die luden heim Besuch eines Grabes immer ein Steinehen auf den Grabstein? Das ist eine durchaus berechtigte Frage, und es wäre nicht gut, auf jüdische Art zu antworten: warum sollen sie keine Steinehen legen? Es hat nämlich seinen besonderen Reiz, dass es auf diese Frage mehrere, sehr unterschiedliche Antworten gibt. Alle können richtig sein, und alle auch falsch. Denn in keinem der über sechshundert Gebote und Verhaltensregeln, die die jüdische Über-lieferung kennt, ist eine Empfehlung für das Steinchen legen gegeben. Auch die vielen berühmten Bücher der jüdischen Religionsliteratur, die im Laufe der Jahrhunderte geschrieben wurden, enthalten keinen Hinweis. Nicht einmal ein Zitat des zitatenreichen Alten Testaments gibt einen Tipp für diesen Brauch. So nimmt es kein Wunder, dass die Zahl der Antworten immer größer wird. Allein mir, dem wenig gelehrten Autor, sind wenigstens fünf bekannt. Aber welche kommt der Wahrheit am nächsten? Etwa die, dass die alten Israeliten auf ihrem langen Marsch von Ägypten durch den Sinai ins Gelobte Land nur wenige oder gar keine Blumen aber dafür Steine in Hülle und Fülle hatten und also notgedrungen mit ihnen, den Steinen, ihre Toten ehrten. — Ich hörte auch schon die Version, es sei ein im ursprünglichen Sinn abgewandeltes relikt der üblichen Bestattung von Wüstenvölkern, die Steine über die Grabstelle häuften, damit nicht Geier oder Schakale an den Leichnam herankämen.

Oder die Erklärung: es versinnbildliche, aus Verehrung des Toten, eine Erhöhung seines Denkmals.

Oder:  Das Steinchenlegen sei als symbolische Geste zur Unterstreichung der Worte „Erde zu Erde, Staub zu Staub“ zu verstehen.

Folgende Deutung behagt mir am ehesten: die jüdische Überlieferung schreibt vor, dass die Bestattung der Toten so schlicht wie möglich zu erfolgen habe. Sie lehnt jeden aufwendigen Totenkult ab – darum einfacher Holzsarg, kein Grabschmuck, keine Blumen – damit nach der  streng begrenzten Trauerzeit sich der Trauernde wieder dem Leben zuwende, dass er um des Lebens willen den Schmerz eindämme. Grenzenlose Trauer wird als mangelndes Gottvertrauen angesehen. Das mag der Grund dafür sein, dass in der Ausdeutung dieser religiösen Vorschrift ein Steinchen auf den Grabstein dem verbleibenden Schmerz und der Verehrung des Toten genügenden Ausdruck gibt.

Dass im 18. und 19. Jahrhundert die Frankfurter Christen sagten: das tun die Juden, damit sie bei der Auferstehung auf Christus mit Steinen werfen können, muss ihnen ein notorischer Judenhasser eingeredet haben und wurde von ihnen wohl auch nicht ganz ernst genommen. So hoffe ich doch. All denen jedoch, die diesen Brauch nichtsdestoweniger alttestamentarisch verwurzelt wissen möchten, sei versichert, dass in Frankfurt, wo seit dem 12. Jahrhundert, wie urkundlich belegt, und wahrscheinlich noch viel früher Juden lebten und starben, sich erst im 19. Jahrhundert die Sitte des Steinchenlegens eingebürgert hat. „Bei euch Christen ist das Totenbegraben so eine kostbare Sache und erfordert so viel Geld, dass sich mancher mehr um die Leichenkosten als um die Toten selbst bekümmert. Bei uns Juden aber geschieht alles umsonst und kostet die Leidtragenden gar nichts. Das ist ein gutes Werk und den Betrübten ein großer Trost„ (Die Antwort eines Juden, den im Jahr 1716 der Frankfurter Historiker J. I. Schudt fragte, warum jüdische Beerdigungen so einfach und primitiv seien.)