Rede von Arno Lustiger auf der Eröffnungsveranstaltung in der deutschen Nationalbibliothek am 21.April 2010
Prof.Dr.h.c.ArnoLustiger
Rede bei der Eröffnungs-Veranstaltung des Literaturfestivals „Frankfurt liest ein Buch“ am 21.April 2010 in der Nationalbibliothek
Liebe Irmgard, liebe Ionka und Judith, lieber Rüdiger,
im September 1997, vor knapp 13 Jahren, habe ich einen Freund verloren, der für mich wie ein älterer Bruder war. Als ich ihn vor 32 Jahren kennenlernte, ahnte ich nicht, daß er mein bester Freund werden würde. Dabei lebten wir bis dahin 23 Jahre lang in derselben Stadt, ohne uns zu kennen. Am Tage des Erscheinens der „Kaiserhofstraße 12“ im Jahre 1978 las ich das Buch die ganze Nacht hindurch, wie in Trance. Am nächsten Morgen hatte ich den dringenden Wunsch, den Autor kennenzulernen, um ihn als Lügner und Angeber zu entlarven. Ich rief ihn an und wir verabredeten uns in der Kaiserhofstraße, wo sich zufälligerweise im Hause Numer 16 mein Büro befand. Am gleichen Tage fand die erste Lesung in den Rats-Stuben im Römer statt. Ich setzte mich neben Valis Schwester Paula, um sie auszuhorchen. Zu meiner größten Verblüffung erkannte ich, daß alles, worüber Vali berichtet der Wahrheit entspricht: über sich und seinen Bruder Alex, der als 22-jähriger Wehrmachtssoldat 1944 in Russland fiel, über den mutigen Retter Polizeimeister Kaspar vom 4.Revier und über das unglaubliche Überleben der jüdischen Familie mitten in Frankfurt.
Seit damals waren wir in enger Freundschaft verbunden. Ich konnte im Laufe der Jahre die Rückkehr Valis zu den geistigen Quellen seiner jüdischen Familie, von Mojssej und Olga Rabissanowitsch, beobachten und ihn ein Stück dieses Weges auch begleiten. Vali hat die verschütteten und ihm noch nicht bekannten jüdischen Wurzeln ausgegraben. Sehr oft habe ich ihm dabei durch Informationen geholfen, aber manchmal mußte ich, weil ich selbst ein säkularer Jude bin, weitergraben und neue Quellen für Vali erschließen. Vali hat die gewonnen Kenntnisse durch weitere Forschungen stark vertieft, sie in seinen literarischen Arbeiten umgesetzt und das Leben der armen, rechtlosen Juden, die in die Rebellion gegen die Obrigkeit und die bürgerliche Gesellschaft getrieben wurden, eindrucksvoll geschildert.
Ich wollte von ihm vieles über diejenigen Juden in Frankfurt erfahren, die im Schatten standen, über die Armen, die Linken, die Ostjuden, denn durch meine Forschungen über die jüdischen Philantropen, wie die Budges, Speyers, Hallgartens und Mertons und deren Stiftungen in Frankfurt, wußte ich nur über die reichen Juden Bescheid. Vali war eine unversiegbar sprudelnde Quelle über jüdisches Leben in Frankfurt, das eigentlich niemand kennt. Obwohl die Sengers am Opernplatz wohnten, waren die Menschen des Ostends ihr eigentliches Milieu. Hier lebten neben den frommen Ostjuden die meisten säkularen jüdischen Handwerker und Arbeiter, die ein dichtes Netz von politischen, kulturellen und Sportvereinen und Institutionen schufen. Es gab Vereine, die die jiddische Kultur pflegten und sogar die Geldsammelorganisation „Geserd“ für die Ansiedlung von sowjetischen Juden im Jüdischen Autonomen Gebiet Birobidshan.
Unter ihnen gab es vielfältige Aktivitäten. Ich kann nur die Namen der meist ostjüdischen Vereine, natürlich unvollständig, nennen:
„Jüdischer Arbeiter-Kulturbund“, „Jüdischer Arbeiter-Theaterverein“, „Jüdischer Arbeiter-Fotografenverein“ , „Jüdischer Arbeiter-Gesangverein“ „Jüdischer Arbeiter-Sportverein JASK“.
Ein Thema, das lange Jahre das Leben Valis und der ganzen Familie Senger bestimmte, war ihr Engagement als Kommunisten. Paula, Alex und Vali hatten als Kinder jüdisch-russischer Revolutionäre gute Gründe, sich für eine Partei zu engagieren, die das verhaßte zaristische Regime umstürzte und die Gleichberechtigung für die Juden verwirklichte. Die tieferen Quellen für den Kampf vieler jüdischer Revolutionäre in aller Welt liegen in den sozialkritischen, humanistischen und universellen Postulaten der biblischen Propheten. Das in den jüdischen Quellen formulierte Postulat Tikun Olam, Verbesserung der Welt, war die Motivation für viele Juden, sich in linken Bewegungen zu engagieren. Im Osteuropa ist es oft passiert, daß Juden direkt von der Talmudschule zu einer revolutionären Partei gingen.
Vali und viele seiner Kampfgenossen im Widerstand waren aufrechte, tapfere Menschen, die mit Mut und hohem Einsatz gegen den nazistischen Feind kämpften. Es war ein verzweifelterer Versuch des Widerstandes und der Selbstbehauptung in einer feindlichen Umwelt, ohne Aussicht auf Sieg oder gar Erfolg.
Im November 1938 druckte die KPD eine Sonderausgabe ihres Organs, der illegalen „Roten Fahne“, deren Schlagzeile lautete: „Gegen die Schmach der Judenpogrome!“ Im Leitartikel heißt es u.a.:
Die KPD erhebt ihre Stimme gegen die Judenpogrome Hitlers, der vor der gesamten Menschheit die Ehre Deutschlands mit tiefer Schmach bedeckt hat….Die Kommunistische Partei wendet sich an alle anständigen und ehrbewußten Deutschen mit dem Appell: Helft unseren gequälten jüdischen Mitbürgern mit allen Mitteln“.
Nur knapp ein Jahr später allerdings, im August 1939, hob Stalin im Kreml das Glas auf das Wohl des „vielgeliebten Führers des deutschen Volkes Adolf Gitler“, den er als „Molodjetz“ – jungen Helden, lobte.
Selten haben wir uns über ideologische Fragen unterhalten oder diskutiert, weil ich die Wunde, die Valis Wirken für den Kommunismus verursachte, nicht aufreißen wollte. Idealisten wie Vali, die jederzeit zu jedem Opfer für die Sache des Kommunismus bereit waren, wurden schmählich verraten, als Stalin nach dem gewonnenen Kriege die Juden verfolgte. 1948 ließ er Mitglieder des Jüdischen Antifaschistischen Komitees, die jüdische Elite der Sowjetunion, verhaften und nach einem Geheimprozeß am 12.August 1952 erschießen. Unter ihnen waren jiddische Dichter und Schriftsteller, deren Werke Mojssej und Olga Senger so liebten. Keiner der stalinistischen Apparatschiks und Parteikontrolleure, die später über Vali zu Gericht saßen, war würdig genug, um ihm die Schuhe putzen zu dürfen.
In meinem „Rotbuch: Stalin und Juden“ habe ich diese verbrecherischen Vorgänge und die vergeblichen Kämpfe der jüdischen Don Quijotes der Weltrevolution ausführlich geschildert. Vali hat mehrere Kapitel aus dem Manuskript meines Buches gelesen. Wir haben beide voller Schmerz und tiefer Trauer an die zahlreichen jüdischen Opfer des mörderischen Stalinismus gedacht.
Die Bundesrepublik gedenkt der Widerstandskämpfer, missachtete jedoch lange Jahre Menschen wie Vali als Kommunisten, und beraubte sie ihrer Rechte als Verfolgte durch winkeladvokatische Gesetzestricks. Dem geborenen Frankfurter Vali wurde bis zum Jahre 1981 die Entschädigung und die Staatsbürgerschaft verwehrt. Selbst die Jüdische Gemeinde in Frankfurt wollte Vali nicht als Mitglied aufnehmen. Hatten Sie alle Angst vor diesem so freundlichen Menschen und Kommunisten?
Mit Vali teilte ich den Schmerz über den Weggang und die Ermordung vieler Freunde und Kameraden. Dieser Überlebens-Schuldkomplex, der in der Frage begründet ist, warum gerade wir und nicht andere überlebt haben, hat uns stets begleitet und schwer belastet. Vielleicht brachte uns die Arbeit an der jüdischen Thematik zeitweilig etwas Enlastung.
Unser Problem war auch , daß jahrzehntelang niemand etwas von dem wissen wollte, was wir erlebt und wie wir überlebt hatten. Außerdem hatte ich, was diese Zeit betrifft, einen mentalen Block. ich konnte und wollte über meine Erlebnisse weder sprechen noch schreiben. Valis Schreib- und Redeblock endete mit der Veröffentlichung seines Buches „Kaiserhofstraße 12“., vor 32 Jahren.
Er hat mich auf eine besondere Weise davon überzeugt, daß ich das Schweigen über meine Erfahrungen während der Nazizeit beenden muß. Zusammen mit seinem Buch „Kaiserhofstrasse 12“ schenkte er mir die Gedichtesammlung von Hans Sahl „Wir sind die Letzten“ Dazu schrieb er die folgende Widmung:
Auch wir, lieber Arno, Du und ich, gehören zu denen, die Hans Sahl meint, und das hat uns letztlich zusammengebracht. Hoffen wir, daß man uns noch lange befragen kann und auch befragen wird.
Vali kann man nicht mehr befragen, aber dafür seine Bücher lesen. Einer Lesung von Vali beizuwohnen war stets ein großes Vergnügen – er wich oft vom Hauptthema ab – er hatte ja unendlich viele Geschichten, so en passant bereit – und kehrte dann reumütig zum vorbereitetem Text zurück. Zusammen mit Irmgard, Vali, seiner Schwester Paula, mit meiner Erika und mit Wolf Biermann und seiner Mutter Emma, verbrachten wir schöne, unbeschwerte Zeiten auf Sylt, wo wir beide, Vali und ich, an der „Akademie am Meer“ Vorträge hielten.
Statt uns in politische Diskussionen zu vertiefen, haben wir, wann immer wir zusammenkamen, gelacht, gescherzt, uns gehänselt und angeflachst, über jüdische Witze gelacht und uns mit jiddischen, manchmal nicht salonfähigen Ausdrücken belegt. Vali liebte jiddische Volkslieder und besonders jüdische Arbeiterlieder und hat zusammen mit Irmgard einen Vortragszyklus mit musikalischen Beispielen erarbeitet. Ich trug ihm einmal die jiddische Hymne des jüdischen Arbeiter-Bundes vor, die ich schon mit 12 Jahren als Kinderbundist gesungen habe und am Ende haben wir beide eine Träne vergossen, weil auch Vali besonderes dieses Lied der jüdischen Arbeiter liebte. Das klingt in unseren Ohren heute sehr altmodisch und sentimental. Der Text lautet:
Oj brider, mir hobn geschlossn
ojf lebn un tojt a varband.
Mir stehen in schlacht wie genossn,
die fohne, die rojte in hant.
Oh, Brüder, wir haben beschlossen,
in Leben und Tod fest zu stehen.
Wir gehen in den Kampf als Genossen,
die Fahne, die rote wird wehn.
Übersetzung von Rosa Luxemburg
Im Oktober 1984 erschien Valis zweites Buch, „Kurzer Frühling“, in dem er über seine Erfahrungen mit den kommunistischen Genossen berichtete. Ergreifend ist die Schilderung seiner Vernehmung durch die Parteikontroll-Kommmission wegen der Geheimrede Chruschtschows auf dem 20.Parteikongreß der KPdSU. In das erste Exemplar dieses Buches schrieb Vali die folgende Widmung:
„Ein druckfrisches Exemplar für meinen Freund Arno. Du hast mir in meiner jüdischen und politischen Neuorientierung ein ganzes Stück weitergeholfen“
Vali hat die jüdischen Friedhöfe in Frankfurt erforscht und sie in seinem 1985 erschienenen Buch zusammen mit dem Fotografen Klaus Mayer-Uhde geschildert.
Vali vertiefte sich auch in die Geschichte unserer Region und schilderte in seinem 1991 erschienenen Buch „Die Buchsweilers“ das Leben und den Tod jüdischer Räuberbanden. Es folgten jüdische Geschichten im Buch „Das Frauenbad“ mit einem ausführlichen Glossar jüdischer Ausdrücke und 1995 eine Studie über die Nachkriegszeit „Der Heimkehrer“. Sein letztes Werk 1997 sind Fahnengeschichten „Die rote Turnhose“
Irmgard, Valis Freunde und ich danken Ihnen, den vielen prominenten Gästen, sowie den Vorleserinnen und Vorlesern für ihr Engagement für Valis Buch und für das Gedenken an ihn. „Verba flotant, scripta manent“ lautet eine lateinische Sentenz – Worte verfliegen, Geschriebenes bleibt. Ich danke allen, die dieses großartige Senger-Kaiserhofstrasse 12 -Festival organisiert und ermöglicht haben und durch ihre Beteligung bereichert werden.
Ich hoffe und wünsche mir, dass in den kommenden Tagen viele Frankfurter das reiche Veranstaltungsangebot mit Lesungen und Informationen wahrnehmen werden, sich dazu inspirieren lassen, die „Kaiserhofstrasse 12“ danach auch selber zu lesen, und dadurch Vali, diesen außergewöhnlichen Menschen in ihrem Gedächtnis und in ihren Herzen behalten werden.
Zum Schluss: lieber Herr Ruske, sehr geehrter Herr Schöffling,
Mit diesem Lese-Marathon haben Sie etwas Unglaublichen geleistet. So etwas hat es noch nie, weder in Frankfurt, noch sonstwo gegeben. Das war keine vergebliche Mühe, keine verlorene Zeit – pas temps perdu.
Dafür ziehe ich vor Ihnen meinen virtuellen Hut und sage: Chapeau und herzlichen Dank!