Ankündigung der Frankfurter Rundschau

Copyright © FR-online.de 2009
Erscheinungsdatum 22.07.2009

Eine Stadt liest

Von Matthias Arning

Ein ganz besonderes Buch. Für eine ganz besondere Aktion. In einer ganz besonderen Stadt.

Das ganz besondere Buch stammt aus der Feder von Valentin Senger. Es heißt Kaiserhofstraße 12 und erzählt die Geschichte aus einem Hinterhaus in der Frankfurter Innenstadt. Es ist die Geschichte einer Familie. Die Familie Senger hat drei Kinder, die ein arbeitsloser Vater in schwieriger Zeit durchbringen muss. Die Sengers sind Juden, ihre Geschichte ist eine Geschichte der Verfolgung, der Angst und des Schreckens. Diese Geschichte kann man heute nur noch lesen, wenn man das Buch über die Kaiserhofstraße bereits vor Jahrzehnten erworben hat.

Damit sich das ändert, will Klaus Schöffling Anfang kommenden Jahres eine Neuauflage des Buches starten. Schöffling ist ein bekannter Frankfurter Verleger, der sich mit seiner Stadt, seinem Frankfurt, verbunden weiß. Sengers Buch liegt ihm ebenfalls ausgesprochen am Herzen. Deswegen hat Schöffling die Idee für eine ganz besondere Aktion geliefert. Das Programm heißt „Eine Stadt liest ein Buch“, auf die konkrete Stadt und das konkrete Buch bezogen heißt das: „Frankfurt liest Valentin Senger – Kaiserhofstraße 12“.

Das ist wohl das berühmteste Buch, das Senger geschrieben hat. Er versteht sich selbst als Chronist seiner Zeit, als Dokumentarist des Frankfurter Alltags, als Erzähler der Hinterhöfe. Gelernt hatte er den Beruf des technischen Zeichners, später, weit nach dem Krieg, wirkte er als Redakteur des Hessischen Rundfunks. Und als Buchautor, der nach seinem Tod vor nunmehr zwölf Jahren ein bisschen in Vergessenheit geriet.

Idee aus Chicago

Das dürfte sich im nächsten Frühjahr auf einen Schlag ändern. Mit der ganz besonderen Aktion in der ganz besonderen Stadt. Die Aktion stammt eigentlich aus Chicago: „One City, one Book“. Doch Ende April 2010 läuft sie für drei Wochen in Frankfurt. An ganz unterschiedlichen Ecken der Stadt. Schließlich geht es nicht allein darum, dass Buch in den Alltag zurückzuholen. Es geht auch darum, das Buch wieder zum beherrschenden Gesprächsthema der Stadt zu machen.

Das könnte was werden. Weil plötzlich alle den Senger lesen. Überall in der Stadt: In der Kaiserhofstraße, wo heute ein Parkhaus steht, im Literaturhaus, im Hauptbahnhof, in der Schule, überall. Organisiert wird diese ganz besondere Aktion für ein ganz besonderes Buch in einer ganz besonderen Stadt von einem Verein, der eigens zu diesem Anlass gegründet wird. Um die Aktion publik zu machen, arbeitet der Verein eng mit dem Hessischen Rundfunk und der Lokalredaktion der FR zusammen.

 

Bericht der Frankfurter Rundschau

Copyright © FR-online.de 2009
Erscheinungsdatum 26.06.2009

Literatur

Die Stadt, das Buch

Von Matthias Arning

Das erste Kapitel heißt „Mama“. Und gleich im ersten Satz geht es um Kindheitserinnerungen. In dieser Rückschau auf eine Kindheit in den 20er Jahren in Frankfurt am Main sitzt ein Junge unter einem runden Tisch und spielt mit einem Blechclown. Der Clown sitzt auf einem Karren und schlägt beim Fahren auf einen Esel ein. Das ist ein hübscher Einstieg in ein Buch, das man im weiteren Verlauf nicht mehr als hübsch bezeichnen möchte. Es ist die Geschichte aus einem Hinterhaus. Sie spielt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es geht um eine Familie mit drei Kindern und einem arbeitslosen Vater. Die Familie ist jüdischen Glaubens. Es ist eine Geschichte aus dem Alltag des Nationalsozialismus.


Geschichten wie die aus der Kaiserhofstraße 12 sind so recht nach dem Geschmack von Klaus Schöffling. Deswegen hat sich der Verleger auch des gleichnamigen Buches von Valentin Senger angenommen, als er eines Tages feststellte, dass das zuletzt vor drei Jahrzehnten bei Luchterhand erschienene Buch nicht mehr zu haben ist. Schöffling nahm sich zwei Dinge vor: Das Buch wieder aufzulegen und es einem möglichst breiten Publikum zu erschließen. Und so kommt die Geschichte Anfang des Jahres wieder in den Buchhandel und gerät dann im Mai in den Mittelpunkt einer Aktion, die Kulturdezernent Felix Semmelroth großartig findet: „Eine Stadt liest ein Buch“, heißt das Programm, konkreter: Frankfurt liest Valentin Senger, der ein längst vergangenes Frankfurt wieder lebendig werden lässt.

Heute ein Parkhaus


„Kaiserhofstraße 12“ ist wohl Sengers berühmtestes Buch. Nach dem Krieg arbeitete der gelernte Technische Zeichner und Konstrukteur als Journalist, später als Redakteur des Hessischen Rundfunks. Sengers Schreiben liefert Zeitchronik, Geschichten des Alltags, Anekdoten aus einer Straße und über ihre Anwohner. „Kaiserhofstraße 12“, das ist heute die Adresse eines Parkhauses. Früher lebten dort Ionka, Mimi und die Dirne Rosa. Zumindest hat Valentin Senger die Anwohner in seinem Buch so genannt.

Die Rechte an diesem Buch lagen beim Luchterhand Verlag. Der gab sie zurück, Klaus Schöffling sicherte sich die Lizenz. Und machte sich mit seiner Neuerscheinung auf den Weg ins Kulturamt, um für die weitere Aktion zu werben, das Buch in die Schulen, und auf die Marktplätze zu bringen. Die von Semmelroth zusammengeholten Buchmacher aus Börsenverein des Deutschen Buchhandels, anderen Verlagen und der Geschichte verpflichteten Initiativen fanden Schöfflings Idee ebenfalls brillant. Der Eichborn Verlag will das Buch zeitgleich als Hörbuch machen.

Für die Leiterin des Kulturamtes verbinden sich mit dem Projekt große Erwartungen: „Wir hoffen“, sagt Carolina Romahn, „dass dieses Buch für einige Wochen in den Blick gerät“. Schließlich eröffne Senger den Blick auf ein anderes Frankfurt, eine Stadt, die Jüngere nicht mehr kennen.

Vier Wochen Lesung

Ihnen könnte Senger, davon ist auch Verleger Schöffling überzeugt, „den Alltag des Nationalsozialismus erschließen“. Doch nicht allein Schüler, die älter als zehn Jahre sind, sollen sich von der Aktion angesprochen fühlen. Alle Leser dieser Stadt könnten sich das Buch vornehmen, um sich über die vier Wochen des kommenden Mais hinweg bei Lesungen und Vorlesungen über ihre Lektüre auszutauschen. In den nächsten Jahren soll das dann mit anderen Frankfurter Autoren und anderen Frankfurter Verlagen auch so werden: Eine Stadt liest ein Buch.